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Verkehrsrecht : Zur EU-Verordnung Nr. 261/2004 - Fluggastverordnung
08.03.2012 20:50 (8911 x gelesen)

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte unter Az C-402/07 und C-432/07,
C-402/07 und C-432/07 am 19.11.2009 über Vorlagefragen zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 zu entscheiden. Fraglich war, ob ein Fluggast im Falle einer sog. "großen Verspätung" ebenfalls Ausgleichansprüche gelötend machen kann, wie im Falle einer Annullierung oder Nichtbeförderung. Nachdem dies Frage zur Zufriedenheit der Fluggäste beantwortet war, blieb die nationale Rechtssprechung weiterhin uneinheitlich. Seit 05.08.2011 war diesbezüglich ein weiteres Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH, C-581/10 anhängig, über das am 23.10.2012 entschieden wurde. Im folgenden ist der Sachstand bis zum Urteil dargestellt. Am 23.10.2012 wurde das Urteil verkündet.


Die Leitsätze der Entscheidung vom 19.11.2009 lauten:

1. Art. 2 Buchst. l sowie die Art. 5 und 6 der Verordnung Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs? und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen sind dahin auszulegen, dass ein verspäteter Flug unabhängig von der – auch erheblichen – Dauer der Verspätung nicht als annulliert angesehen werden kann, wenn er entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird.

Ein Flug ist nämlich „verspätet“ im Sinne von Art. 6 dieser Verordnung, wenn er entsprechend der ursprünglichen Planung durchgeführt wird und sich die tatsächliche Abflugzeit gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, während die Annullierung nach Art. 2 Buchst. l der Verordnung Folge der Nichtdurchführung eines geplanten Fluges ist.

(vgl. Randnrn. 32-33, 39, Tenor 1)

2. Die Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs? und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen sind dahin auszulegen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen. Eine solche Verspätung führt allerdings dann nicht zu einem Ausgleichsanspruch zugunsten der Fluggäste, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, also auf Umstände, die von dem Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen sind.

(vgl. Randnr. 69, Tenor 2)

3. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs? und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen ist dahin auszulegen, dass ein bei einem Flugzeug aufgetretenes technisches Problem, das zur Annullierung oder Verspätung eines Fluges führt, nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind.

(vgl. Randnr. 72, Tenor 3)

______________

Ganz überwiegend wurde diese Rechtsprechung von den nationalen Gerichten befolgt. Nur wenige Gerichte, bzw. Richterinnen und Richter konnten aus Überzeugung dem nicht folgen sondern sahen in der Entscheidung eine Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung: Der EuGH als Organ der Rechtsprechung hat sich als Gesetzgeber generiert und dort einen Anspruch erkannt, wo das Gesetz schweigt, so die Begründung. Dem juristischen Laien mag sich das Problem nicht erschließen. Es ist für den Reisenden doch weniger belastend, wenn er zwei Stunden nach einer Annullierung mit einem anderen Flugzeug befördert wird, als wenn er eine Verspätung von z. B. sieben Stunden hinnehmen muß. Wieso sollte er dann im Falle einer großen Verspätung nicht mindestens den gleichen Ausgleichsanspruch haben wie der, dessen Flug annulliert wurde? Es geht den Vertertern dieser Mindermeinung (mit allerdings guten Argumenten) aber nicht um das, was im konkreten Einzelfall richtig und gerecht wäre, sondern darum, daß die Rechtsprechung an Recht und Gesetz gebunden ist und wenn ein Gesetz eine Rechtsfolge vorschreibt, darf sich die Rechtsprechung nicht darüber hinwegsetzen, gleich ob Amtsgericht, BGH oder EuGH.

Richtigerweise hätte der EU-Gesetzgeber reagieren müssen, sah aber offenbar weder raschen Handlungsbedarf noch die Notwendigkeit, wenigstens eine Stellungnahme abzugeben. Nun ist eine weiteres Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH anhängig mit folgender Vorlagefrage:

Ist es mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung in der Europäischen Union vereinbar, wenn die Verordnung 261/2004/EG vom Gerichtshof der Europäischen Union zur Beseitigung einer sonst gegebenen Ungleichbehandlung dahingehend ausgelegt wird, dass einem von einer bloßen Verspätung von mehr als 3 Stunden betroffenen Fluggast eine Ausgleichszahlung nach Artikel 7 der Verordnung zusteht, obwohl die Verordnung dies nur im Falle einer Beförderungsverweigerung oder Annullierung des gebuchten Fluges vorsieht, die Ansprüche des Fluggastes im Falle einer Verspätung aber auf Unterstützungsleistungen nach Artikel 9 der Verordnung und - wenn die Verspätung mehr als fünf Stunden dauert - auch auf Unterstützungsleistungen nach Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) der Verordnung beschränkt?

(EugH C-413/11)

Mit einer Entscheidung kann wohl gegen Ende des Jahres 2012 gerechnet werden.

Die bei den Gerichten anhängingen Verfahren werden bis zur Entscheidung des EuGH spätestens in dritter Instanz ausgesetzt. Die Möglichkeiten der betroffenen Fluggäste sind, entweder einen Vergleich zu schließen, wenn man wenigstens einen Teil der Klagesumme zeitnah realisieren möchte (i. d. R. 50% des Ausgleichsanspruchs), oder aber man muß sich mit ein wenig Risikobereitschaft in Geduld üben, bis der EuGH die endgültige Antwort hinsichtlich aller anhängigen Verfahren diktiert. Die Ansprüche sind zudem mit 5 bzw. 8 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gut verzinst - wenn man gewinnt.


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