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Verkehrsrecht : Haftungskürzung bei Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes (Mitverschulden)
01.11.2012 01:00 (6109 x gelesen)

Wer ohne angelegten Sicherheitsgurt ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr führt begeht nicht nur eine Ordnungswidrigkeit sondern handelt auf das Gröbste schuldhaft gegen sich selbst. Arbeitsrechtlich führt eine durch einen Verkehrsunfall herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit zum Wegfall des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung und hinsichtlich der Haftung anderer Unfallbeteiligter muß sich der nicht angeschnallte Fahrer oder Insasse eines Fahrzeugs einen erheblichen Mitverschuldensanteil anrechnen lassen, wenn die unfallbedingten Folgen nicht eingetreten wären, wäre der Betroffene angeschnallt gewesen.


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung

vom 28. Februar 2012 für Recht erkannt:



Tenor


Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 15. Dezember 2010 teilweise aufgehoben und zu Ziff. I wie folgt neu gefasst:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Grund- und Teilurteil des Landgerichts Baden-Baden vom 20. Mai 2010 - 3 O 565/09 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels wie folgt abgeändert und neu gefasst:




1. Die Klage ist wegen des der Klägerin durch den Aufprall des von dem Beklagten zu 1 gesteuerten Pkw auf ihren Pkw am 19. April 2003 entstandenen Schadens hinsichtlich des ihr bis zum 7. Januar 2010 entstandenen materiellen Schadens zu 60 % und hinsichtlich des ihr entstandenen immateriellen Schadens unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils in Höhe von 40 % dem Grunde nach gerechtfertigt.



2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin den ihr aus dem genannten Schadensereignis ab dem 7. Januar 2010 erwachsenen bzw. noch entstehenden materiellen Schaden zu 60 % und den zukünftigen immateriellen Schaden unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils in Höhe von 40 % zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.



3. Soweit die Klägerin eine Verurteilung der Beklagten mit einer höheren Haftungsquote begehrt, wird die Klage hinsichtlich der Klageanträge zu 1 bis 3 abgewiesen.

Die Entscheidung über die Kosten der Rechtsmittelverfahren bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.





Von Rechts wegen



Tatbestand



Die Klägerin befuhr am 19. April 2003 gegen 3:10 Uhr mit ihrem Pkw die BAB A 5 und verlor aus ungeklärten Gründen die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Dieses geriet ins Schleudern, stieß gegen die Mittelplanke und kam auf der linken Fahrspur unbeleuchtet zum Stehen. Kurz darauf prallte der Beklagte zu 1, der mit einer Geschwindigkeit von 130 km/h und eingeschaltetem Abblendlicht gefahren war, mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw auf das Fahrzeug der Klägerin. Diese wurde schwer verletzt. Sie hat im Wege der Leistungs- und Feststellungsklage Ersatz materieller und immaterieller Schäden unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 1/3 begehrt. Das Landgericht hat der Klage durch Grund- und Teilurteil stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht deren Haftungsquote grundsätzlich auf 60 %, hinsichtlich des entstandenen materiellen Schadens, soweit dieser auf den aus dem Schadensereignis erwachsenen körperlichen Schäden beruht, und hinsichtlich des der Klägerin ab 7. Januar 2010 erwachsenen bzw. noch entstehenden materiellen Schadens jedoch auf 40 % abgesenkt und hinsichtlich des entstandenen sowie des zukünftigen immateriellen Schadens eine Haftung der Beklagten unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 60 % angeordnet. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klagebegehren weiter, soweit das Oberlandesgericht die Haftungsquote der Beklagten auf weniger als 60 % abgesenkt und einen Mitverursachungsanteil der Klägerin von mehr als 40 % ausgesprochen hat.


 


Entscheidungsgründe


I.

Das Berufungsgericht führt aus, die Klägerin habe wegen des Verkehrsunfalls vom 19. April 2003 gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Anspruch auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens, wobei die Beklagten jedoch nicht für die Schäden aus dem Erstunfall haftbar seien, ihre Haftung vielmehr auf die Schäden beschränkt sei, die der Klägerin (erst) durch den Aufprall des von dem Beklagten zu 1 gelenkten Pkw auf ihren eigenen, zuvor bereits verunfallten Pkw entstanden seien. Dabei müsse sich die Klägerin ein Mitverschulden anrechnen lassen, welches grundsätzlich mit einer Quote von 40 % zu bemessen sei. Da die Klägerin bei dem Zweitunfall nicht angegurtet gewesen sei, müsse sie sich hinsichtlich des geltend gemachten materiellen Schadens, soweit dieser auf den erlittenen körperlichen Schäden beruhe, und hinsichtlich der geltend gemachten immateriellen Schäden jedoch einen Mitverschuldensanteil von 60 % entgegenhalten lassen.



II.

Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.



1. Die Revision nimmt hin, dass das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil zum Nachteil der Klägerin insoweit abgeändert hat, als es grundsätzlich eine Erhöhung der Mitverursachungsquote von 1/3 auf 40 % vorgenommen hat. Sie wendet sich auch nicht gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin schon bei dem Erstunfall nicht angeschnallt gewesen sei.



2. Die Revision greift das Urteil aber insoweit an, als das Berufungsgericht den Mitverschuldensanteil der Klägerin im Hinblick darauf teilweise mit mehr als 40 % bemessen hat, dass diese bei dem Zweitunfall, nämlich als es zum Aufprall des von dem Beklagten zu 1 gelenkten Pkw auf ihren eigenen Pkw kam, nicht angegurtet gewesen sei. Damit hat sie Erfolg. Die Revision beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, inwieweit sich der Umstand, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Zweitunfalls den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, auf die von ihr erlittenen Verletzungen ausgewirkt hat.



a) Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB oder des § 17 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. Senatsurteile vom 12. Juli 1988 - VI ZR 283/87, VersR 1988, 1238, 1239; vom 5. März 2002 - VI ZR 398/00, VersR 2002, 613, 615 f. und vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 785, jeweils mwN; BGH, Urteile vom 20. Juli 1999 - X ZR 139/96, NJW 2000, 217, 219 und vom 14. September 1999 - X ZR 89/97, NJW 2000, 280, 281 f.). In erster Linie ist hierbei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben (Senatsurteil vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540 Rn.14 mwN). Daraus folgt, dass den Insassen eines Pkw, der entgegen § 21a Abs. 1 Satz 1 StVO während der Fahrt den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, im Falle einer Verletzung infolge eines Verkehrsunfalls nur dann eine anspruchsmindernde Mithaftung trifft, wenn im Einzelfall festgestellt ist, dass nach der Art des Unfalls die erlittenen Verletzungen tatsächlich verhindert worden oder zumindest weniger schwerwiegend gewesen wären, wenn der Verletzte zum Zeitpunkt des Unfalls angeschnallt gewesen wäre (vgl. Senatsurteile vom 20. März 1979 - VI ZR 152/78, BGHZ 74, 25, 33 und vom 1. April 1980 - VI ZR 40/79, VersR 1980, 824 f.).



b) Die danach gebotene Prüfung der Ursächlichkeit des Zweitunfalls für die von der Klägerin erlittenen Verletzungen hat das Berufungsgericht versäumt. Es hat nämlich weder festgestellt, welche Verletzungen die Klägerin erst durch den Aufprall des von dem Beklagten zu 1 gelenkten Pkw auf ihren Pkw erlitten hat, noch welche dieser Verletzungen darauf zurückzuführen sind, dass sie nicht angeschnallt war. Es führt dazu lediglich aus, die Klägerin habe durch das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts zur Entstehung der weitreichenden körperlichen und darauf basierenden finanziellen Unfallfolgen maßgeblich beigetragen. Eine Begründung dafür findet sich in den Gründen des angefochtenen Urteils nicht. Es heißt dort lediglich, die Klägerin sei durch den Aufprall aus dem Sitz gerissen und im Fahrzeug umhergeschleudert worden, was ohne Zweifel zumindest für gewisse weitere Verletzungen der Klägerin mitursächlich gewesen sei. Welche Verletzungen tatsächlich hätten verhindert werden können, wenn die Klägerin bei dem Zweitunfall angeschnallt gewesen wäre, ist nicht festgestellt.

Das wäre zur Begründung einer darauf gestützten Mithaftung jedoch erforderlich gewesen, zumal vorliegend gerade auch angesichts der hohen Aufprallgeschwindigkeit zweifelhaft sein könnte, inwieweit das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts für die eingetretenen Verletzungen ursächlich war (vgl. Senatsurteil vom 20. März 1979 - VI ZR 152/78, aaO).



3. Die Revision beanstandet zudem mit Recht, dass das Berufungsgericht der Klägerin auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen überhaupt ein Mitverschulden wegen des Nichtanlegens des Sicherheitsgurts angelastet hat.



a) Da die Beklagten, wie das Berufungsgericht zutreffend erkennt, für die Folgen des Erstunfalls nicht einzustehen haben, kommt es vorliegend nicht darauf an, ob und gegebenenfalls welche der dabei entstandenen Verletzungen durch das Anlegen eines Sicherheitsgurts hätten vermieden werden können. Für die Haftung der Beklagten ist es deshalb unerheblich, ob die Klägerin angeschnallt war, als sich der Erstunfall ereignete.



b) Zum Zeitpunkt des Zweitunfalls bestand für die Klägerin, wie die Revision mit Recht geltend macht, keine Anschnallpflicht mehr, denn der Aufprall des von dem Beklagten zu 1 gelenkten Pkw ereignete sich nicht "während der Fahrt" ihres eigenen Pkw. Wie der erkennende Senat entschieden hat, dauert die gemäß § 21a Abs. 1 Satz 1 StVO "während der Fahrt" bestehende Anschnallpflicht zwar auch bei kurzzeitigem verkehrsbedingten Anhalten fort (Senatsurteil vom 12. Dezember 2000 - VI ZR 411/99, VersR 2001, 524), doch war nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen die Fahrt vorliegend dadurch beendet worden, dass der Pkw der Klägerin unfallbedingt an der Leitplanke zum Stehen gekommen war. Nachdem es zu diesem Unfall gekommen war, war die Klägerin mithin nicht nur berechtigt, den Gurt zu lösen, um ihr Fahrzeug verlassen und sich in Sicherheit bringen zu können, sondern gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 2 StVO sogar dazu verpflichtet, nämlich um die Unfallstelle sichern zu können. Bei dieser Sachlage kann ihr nicht angelastet werden, unangeschnallt gewesen zu sein, als sich der Zweitunfall ereignete.



4. Das angefochtene Urteil kann nach alledem keinen Bestand haben. Da aus den unter Ziffer II. 3. genannten Gründen keine weiteren Feststellungen zur Mitverursachung unter dem Gesichtspunkt des Nichtanlegens des Sicherheitsgurts zu treffen sind, kann der erkennende Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Ansprüche der Klägerin auf Ersatz materiellen Schadens sind zu 60 %, diejenigen auf Ersatz immaterieller Schäden unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils in Höhe von 40 % begründet.


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